Von einem anderen Stern

Es soll ja Motorsportfans gegeben haben, die sich im Vorfeld – gelinde ausgedrückt – gewundert haben, warum die FIA zwei ihrer Rennserien am gleichen Wochenende auf zwei Rennstrecken ansetzt, die Luftlinie gerade mal fünfzig Kilometer voneinander entfernt sind. Am dritten Maiwochenende sollte die Formel 1 in Imola gastieren, gleichzeitig stand die Saisoneröffnung des European Truckracing Championship in Misano Adriatico im Kalender. Dass es dann ganz anders kam, lag aber nicht an spätem Einsehen, sondern an der Natur, die einige Tage vor dem geplanten Doppeltermin mit Gewalt über Mittelitalien und speziell über die Region Emilia Romagna, in der beide Rennstrecken liegen, kam. Extremregen überschwemmte weite Teile der Provinz, richtete Milliardenschäden an und sorgte für Todesopfer. Weil Teile des dortigen Fahrerlagers überflutet waren, wurde das Gastspiel der Formel 1 in Italien kurzfristig abgesagt.

Ein Szenario, das die Truckracer mit gemischten Gefühlen beobachteten, schließlich ist die Ahrtal-Flut, die 2021 die Absage des Truck Grand Prix auf dem Nürburgring erforderlich machte, noch in frischer Erinnerung. In Misano arbeiteten die Organisatoren allerdings unverdrossen weiter und gaben die Parole aus: Die Trucks können starten. Die Flutschäden waren in der gesamten Provinz ohnehin „ungleich verteilt“ mit kaum betroffenen Landstrichen und solchen, in denen die Menschen mit Helikoptern aus ihren überschwemmten Häusern gerettet werden mussten. Da die Rennstrecke Santa Monica höher liegt als die nahe Küste, gab es in dieser Gegend keine Überflutungen. Das änderte sich trotz diverser Schauer auch am Freitag und Samstag nicht.

Wobei es im Fahrerlager am Freitag sehr ruhig zuging. Der Zeitplan war angesichts der Tatsache, dass in Misano die Saison eröffnet wurde, für die Teams denkbar ungünstig: Die beiden freien Trainingseinheiten waren erst für Samstag angesetzt, zudem durften die Trucks erst um kurz vor zehn Uhr zum ersten Mal auf die Piste. Rennen 2 wurde um 18.30 Uhr gestartet. Auch am Sonntag sah der Terminplan nur knapp bemessene Pausen zwischen den Auftritten auf der Rennstrecke vor. 

Zumindest bei den Top-Akteuren dürfte allerdings nicht nur der eigenwillige Zeitplan für Schnappatmung gesorgt haben. Spätestens nach dem Qualifying war klar, dass auch in der Europameisterschaftssaison 2023 kein Weg an Norbert Kiss‘ rotem MAN vorbei führen dürfte. Der aktuelle Europameister düpierte die Konkurrenten geradezu. Geht es im Zeittraining um die schnellste Rundenzeit, liegen in der Spitzengruppe in der Regel nur Sekundenbruchteile zwischen den besten Piloten. Kiss lag lange Zeit mit einem Vorsprung von 1,6 Sekunden in Front, ehe Jochen Hahn noch eine schnelle Runde gelang, mit der er die Lücke auf 1,277 Sekunden reduzierte. In der Welt des Speedsports sind das Galaxien. 

Kiss ging also als klarer Favorit in das Auftaktrennen des Jahres 2023, das wegen der nassen Piste unter Gelb gestartet wurde. Etwas überraschend schoss dann nach der dritten Runde Jochen Hahn im IVECO als Führender über den Zielstrich: Ein technischer Defekt hatte den Top-Favoriten zur vorzeitigen Aufgabe gezwungen, der Rekord-Europameister kam so zum ersten Sieg. Auf den Plätzen zwei Fahrer, die man dort nicht unbedingt erwartet hätte: Antonio Albacete und André Kursim. Sascha Lenz hatte sich im Qualifying verzockt und musste vom Ende des Feldes starten, mehr als Platz fünf war für den Plaidter dann nicht mehr zu holen. Vor ihm kam der jüngste Spross der portugiesischen Truckrace-Familie Rodrigues ins Ziel: Opa Eduardo und Vater Jose applaudierten Jose Eduardo, der es richtig krachen ließ in Misano. Am Sonntag kam der Youngster in Race vier sogar als Zweiter ins Ziel, in der Gesamtwertung liegt er nach dem ersten von acht Wochenenden auf Rang 5.


Dem Feld enteilt

Start vom Ende des Feldes: Im zweiten Rennen war es Norbert Kiss, der sich ganz hinten einreihen musste. Was dann folgte, war eine weitere Demonstration der derzeitigen Kräfteverhältnisse. Der Start erfolgte wegen starken Regens erneut unter Gelb, die Reihenfolge veränderte sich also erst nach dem Ende der ersten Runde. Nach dem dritten Umlauf war Kiss bereits in den Top 5, nach fünf Runden hatte er sich an die Spitze gesetzt und spulte das Restprogramm bei weiter anhaltendem Regen deutlich schneller ab als seine Konkurrenten. Knapp über 23 Sekunden betrug nach zwölf Runden der Vorsprung auf Sascha Lenz und knapp 27 auf Antonio Albacete, dem ältesten Fahrer im Feld: Der Ungar fährt definitiv in einer eigenen Liga.

Es war also keine Frage, wer am Sonntag als Favorit in den zweiten Renntag ging. Mit aufreizender Lässigkeit lieferte der Champion seine Rundenzeit im Qualifying ab – diesmal bei Sonnenschein und mit knapperem Vorsprung. Auf den Plätzen: Lenz und Hahn. Die Viertschnellste Zeit wurde für Steffi Halm notiert, die tags zuvor in Race 1 mit Motorschaden ausgefallen war und angesichts des engen Zeitplans in Rennen 2 pausieren musste. Diesmal ohne technische Probleme unterwegs, legte Kiss sechs Sekunden zwischen sich und Sascha Lenz, Hahn kam 11,6 Sekunden später ins Ziel als sein Nachfolger auf dem EM-Thron. 

Das abschließende Rennen endete mit einem kuriosen Resultat: Der Sieg ging an den Senior, Antonio Albacete ist offenbar noch immer (oder wieder) gut in Schuss, Platz zwei wie bereits erwähnt an einen der jüngsten Fahrer, Jose Eduardo Rodrigues. Steffen Faas durfte sich über Platz 3 freuen.

Die zweite Runde findet am zweiten Juni-Wochenende auf dem Slovakiaring statt. 

 

DER SAISONAUFTAKT 2023 IN BILDERN

Fotos: Richard & Korbinian Kienberger