HARTER KAMPF UM DIE VIZEMEISTERSCHAFT

Für den obligaten Galaabend zum Saisonschluss hatte sich Jochen Hahn mal wieder eine schräge Einlage überlegt. Auf die Frage der Moderatorin Christina Rann, was er denn in der kommenden Saison anders machen wolle, um Dauersieger Norbert Kiss vom Thron zu stoßen, antwortete der Rekordmeister mit einer Schnurre. Im Lauf der Saison habe er Kiss gefragt, was das Geheimnis seiner Überlegenheit sei. „Du musst viel Schokolade essen!“, habe der geantwortet. Er werde sich das zu Herzen nehmen, meinte Hahn und hatte damit die Lacher im vollbesetzten Saal des noblen Golfclubs gleich oberhalb der Rennstrecke auf seiner Seite. Als Vizemeister der Saison 2022 war er an diesem Abend gelöster als Sascha Lenz, der den zweiten Platz in Jarama kurzzeitig vor Augen hatte, sich aber nach vier munteren Rennen mit Bronze für den Drittplatzierten zufriedengeben musste.

Wie nicht anders zu erwarten, beendete Norbi Kiss, der seinen Meistertitel am Wochenende zuvor in Le Mans perfekt gemacht hatte, die Saison mit zwei standesgemäßen Start-Ziel-Siegen in den Rennen 1 und 3. Eine Wette darauf, dass er sich vor den Rennen am Samstag und Sonntag die Pole Position jeweils mit fast aufreizender Lässigkeit sichern konnte, hätte als Quote wohl nicht einmal den Einsatz erbracht. Spannender als das, was ohnehin feststeht, ist ja das, was noch entschieden werden muss. In diesem Fall vor allem das Duell zwischen Hahn und Lenz. Da tat sich am Samstag nicht viel, der MAN-Fahrer verkürzte den Zwölf-Punkte-Rückstand im ersten Rennen, im zweiten machte Hahn wieder ein paar Punkte gut. Die Entscheidung musste also am letzten Renntag der Saison fallen.

Nach einem turbulenten Start des ersten Sonntagsrennens blieben nach der ersten Kurve – ausgerechnet die Trucks der beiden Kontrahenten stehen. Hahn hing auf dem Heck von Lenz‘ MAN fest. Drei Abschleppwagen rückten an, um die Havaristen zu trennen. Der Iveco musste am Haken zurück ins Paddock geschleppt werden und war für dieses Championshiprace nicht mehr einsatzfähig. Lenz hatte mehr Glück, er konnte sich für den Neustart wieder einreihen, wurde nach den zwölf absolvierten Runden Vierter und hatte damit nur noch vier Punkte Rückstand auf den noch Gesamtzweiten Hahn, der ja aufgrund des Ausfalls vom Ende des Starterfeldes in das letzte Rennen des Jahres 2022 gehen musste. 

Im finalen Aufeinandertreffen drehte sich das Glück allerdings noch einmal: Hahn blieb fehlerfrei und fuhr vom letzten Startplatz auf Platz fünf vor, Lenz verbremste sich in der zweiten Runde in der Kurve am Ende der Start- und Zielgeraden bei einem versuchten Überholmanöver und fiel damit weit zurück. Später platzte auch noch ein Kühlerschlauch, der schwarze Truck drehte sich in einer weißen Dampfwolke ausgerechnet vor der Haupttribüne einmal um die eigene Achse – und der Vizetitel war endgültig verloren.

Es gab noch zwei andere deutsche Fahrer – genauer gesagt: einen Fahrer und eine Fahrerin – die das Saisonfinale für ein Ausrufezeichen nutzten. Und damit ein jeweils sehr durchwachsenes Jahr zumindest zu einem versöhnlichen Abschluss brachten. André Kursim gewann – wie schon im Vorjahr an gleicher Stelle – das zweite Championshiprennen. Am Sonntag setzte der Pilot des Don’t Touch Racingteams noch einen drauf. Er wurde im vierten Lauf am Start nur von Teo Calvet (der die Nachwuchswertung „Promoters Cup“ für sich entschied) übertrumpft und holte sich als Zweiter einen weiteren Podiumsplatz. Auch Steffi Halm hatte zum Saisonabschluss Grund zur Freude. Ebenso zäh wie erfolgreich verteidigte sie im finalen Lauf den dritten Rang Runde um Runde gegen Lacko, Kiss und Lenz (wobei die Reihenfolge in der Verfolgerkette wechselte) und durfte als Lohn für die Top-Leistung einen weiteren Pokal für ihre Sammlung in Empfang nehmen.  

Interessant ist der Blick auf die Abschlusstabelle der Fahrerwertung, in der sämtliche Resultate der Saison aufgelistet sind. Hier bestätigt sich, was nicht anders zu erwarten ist: Wer am Ende des Jahres ganz oben stehen will, muss vor allem konstant punkten. Die Top-vier der Abschlusswertung haben das mustergültig umgesetzt: Kiss hatte nur einen Ausfall (nach dem schweren Crash in Ungarn), Hahn und Lacko (der Vierte) blieben in jeweils zwei von insgesamt 32 Rennen ohne Punkte, Sascha Lenz‘ Rückstand von zehn Punkten auf den zweiten Platz hat sicher auch mit vier „Nullrunden“ zu tun, die der MAN-Fahrer an den acht Wochenenden verkraften musste. 

Nach den letzten Schlachten auf der Rennstrecke fielen die Parties zum Saisonende in diesem Jahr nicht ganz so ausgelassen wie sonst aus. Denn einige Akteure werden wohl im kommenden Jahr nicht mehr dabei sein. Vor allem die Buggyra-Mannschaft wird dem Wettbewerb fehlen. Nach 30 Jahren in der Truckrace-Europameisterschaft beschränkt sich das tschechische Team mit Teo Calvet sowie einigen Nachwuchsfahrern aus der Buggyra-Academy im kommenden Jahr auf das französische Championat und fokussiert sich ansonsten auf 24-Stunden-Rennen und die Rallye Dakar.  

DAS SAISONFINALE 2022 IN JARAMA IN BILDERN