Ein Racetruck fährt nach Södertälje

Für Controller wäre so ein Trip vermutlich ein Alptraum: Auf der einen Seite eine Reise, die mit Ausgaben verbunden ist, auf der anderen Seite kein sicherer Return on Investment. Clemens Hecker drückt es so aus: „Was letztlich dabei herauskommt, weiß ich auch nicht.“ Aber die Reise nicht zu machen, wäre für den Unternehmer auch nicht in Frage gekommen. Also schickte er seinen nagelneuen Scania Racetruck in den Norden. Das Ziel: Södertälje in Schweden. Also der Ort, aus dem die Scanias üblicherweise kommen. 

Die Geschichte ist ja durchaus verzwickt. Es ist kein Geheimnis, dass die schwedischen Nutzfahrzeughersteller mit Truck Racing wenig am Hut haben. Für den Konzern in Göteborg gilt das ebenso wie für die Traton-Tochter Scania. Aber unter den Truckracern ist es wie im richtigen Leben – Scania hat vermutlich die treuesten Fans. Clemens Hecker ist, wenn man so will, auch so ein Überzeugungstäter. In seinem eigenen Unternehmen (siehe Kasten) sind viele Scania-Lastwagen im Einsatz, er war schon oft in Södertälje zu Gast und kennt etliche Manager des Unternehmens. Wobei der entscheidende Kontakt für den Betriebsausflug nach Schweden nicht einmal mit dem Unternehmen von Hecker zu tun hat, sondern dessen Leidenschaft für Oldtimer geschuldet ist. Auf dieser Schiene lernte er vor vielen Jahren Dan Persson kennen, der bei Scania im technischen Marketing arbeitete und daher nach eigener Auskunft eine große Leidenschaft für alles Technische hat. Persson, der inzwischen in Rente ist, fragte Hecker, ob er nicht mit seinem neuen Truck nach Södertälje kommen und das 1200-PS Gefährt dort formlos vorstellen wolle, er könne dabei behilflich sein. Perssons aktiver Kollege Örjan Åslund half dann dabei, einen Plan für den Kennenlerntrip aufzustellen, zudem informierte er die Belegschaft im Technik-Zentrum über den Besuch des für Scania ungewöhnlichen Modells an einem Donnerstag im Mai.

Der Plan sah vor, den Racetruck am Morgen vor Schichtbeginn auf der Freifläche vor Scanias Technical Centre zu parken, so dass sich für alle interessierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Gelegenheit bot, sich auf dem Weg in die Büros den Boliden genauer anzuschauen und mit Hecker über den Truck zu plaudern. Die große Resonanz überraschte den noch vergleichsweise „jungen“ Truckracer, der seit 2016 von den schnellen Lastern fasziniert ist, seine Feuertaufe im Mittelrhein-Cup bestand und seine weiteren Geh- oder besser gesagt Fahrversuche in der holländischen Meisterschaft unternahm. Sein erster Renntruck war – wenig überraschend – ein Scania, den er übrigens immer noch besitzt: Mit dem markanten Hauber kam der Schwede Mikael Johansson lange Jahre zum Truck Grand Prix. Danach fuhr er drei Jahre auf einem MAN, den das Lions-Team verkauft hatte. In der vergangenen Saison wechselte Hecker in die FIA-Europameisterschaft und besorgte sich dafür einen MAN, ebenfalls ein Gebrauchtfahrzeug, das vor Jahren im Altensteiger Stall Hahn auf die Welt gekommen war. Doch schon damals begann der Unternehmer aus Anröchte mit den Vorbereitungen für den Bau eines Scania-Renntrucks. Teile wurden besorgt, eine Kabine organisierte er sich in Schweden, der eigentlich Bau begann dann im Oktober.

Zurück nach Södertälje. Bis kurz vor Mittag stand Hecker mit seinem Schmuckstück vor dem Technical Centre und beantwortete Dutzende Fragen. Klar, in einem Technik-Center arbeiten Technikexperten, zudem ist Motorsport in Nordeuropa ausgesprochen populär. Die Scania-Leute wollten alles Mögliche wissen, das Interesse reichte von den wassergekühlten Bremsen und die Bremstechnik im Rennen über die Schaltung und die Frage, welche Gänge auf der Piste geschaltet werden bis zu den Feinheiten der Chassiskonstruktion und den in der Rennserie verwendeten Bio-Treibstoff. Von größtem Interesse waren natürlich die Leistungsdaten des Renngeräts und die Frage, wie man das gewaltige Drehmoment auf die Straße bringt. 

Mit dabei in Schweden war der Tscheche Tomas Bujnak, der das Design des Renntrucks entwickelt hat. Bujnak weiß um die Schwierigkeiten bei der Umsetzung einer Designlinie auf ein anderes Produkt. Er hat unter anderem schon zahlreiche Modelle für den Euro Truck Simulator gezeichnet und musste sich dabei eng mit den Designabteilungen der Hersteller abstimmen, um Lizenzen für die Verwendung der Markennamen auf den möglichst realistischen Computervarianten aktueller Modellreihen zu erhalten. Für Bujnak war es wie ein Ritterschlag, als Tobias Lindhall, der im Marketing von Scania für derartige Lizenzierungen zuständig ist, noch einmal bestätigte: „Das Design passt, es ist ein Scania.“ Lindhall kam auf der zweiten Station der Vorstellungstour zu der kleinen Reisegruppe aus Deutschland – der Racetruck stand da auf dem Rondell vor dem Scania-Hauptquartier und bekam auch da viel Aufmerksamkeit. Eine größere Gruppe postierte sich prompt zum Erinnerungsfoto vor dem Boliden. Es war eine Procurement-Management-Gruppe des Mutterkonzerns Traton, die an diesem Tag in Södertälje zugange war. Siehe da…

Am Abend des ereignisreichen Tages, an dem der neue Renntruck so viel Aufmerksamkeit bekam, ging es wieder um die angestammten Produkte der Schweden. Die luden Hecker und seine Mitreisenden am Spätnachmittag ein, sich die aktuellen Fahrzeuge genauer anzusehen. „Bei der Demo war alles vertreten, vom 770-PS-Truck über einen 80-Tonnen-Schwertransport bis zum aktuellen Elektromodell,“ schwärmte Hecker und schiebt dann noch eine Hymne auf das „sehr persönliche“ gemeinsame Abendessen im Scania-Museum nach: Der Fanclub in Anröchte ist wieder nachhaltig begeistert.

WIE EIN ALIEN...