1800 Kilometer Einsamkeit müssen mexikanische Fernfahrer bewältigen, die zwischen Tijuana oder Mexicali und dem Süden der Halbinsel Baja California pendeln. 24 Stunden Fahrzeit veranschlagen sie dafür – Unterbrechungen nicht eingerechnet. Tempolimits sind bei der Kalkulation auch nicht vorgesehen.
Wenn Fotografen in fremden Ländern auf Ordnungshüter treffen, sind das häufig unerfreuliche Begegnungen. Denn bei Bedarf findet sich ja immer etwas, das man nicht fotografieren sollte, und sei die Begründung noch so abstrus. Daher schrillen zuerst einmal die Alarmglocken, wenn zwei Uniformierte schon am frühen Vormittag geradewegs Kurs auf den Gringo nehmen, der damit beschäftigt ist, einen fliegenden Händler am Straßenrand zu fotografieren und sich fragt, wie zum Teufel der all den ausgestellten Krempel in seinem Minitruck unterbringen will, wenn er am Abend weiter zieht. Doch diesmal stellt sich die Sorge als unbegründet heraus: José Moran Gonzalez sucht mit seinem Kollegen nur eine Mitfahrgelegenheit für die kurze Strecke von Ciudad Constitución nach Ciudad Insurgentes. Für einen der beiden Polizisten ist Platz im Auto, und am Ende sind die anfänglichen Bedenken natürlich verflogen. Ganz im Gegenteil, José als Beifahrer zu haben, erweist sich als eine seltene Gelegenheit, einen kurzen Einblick in das gefährliche Leben eines mexikanischen Ordnungshüters zu erhalten.
José Moran Gonzalez gehört zur Policia Municipal, was die Geschichte erleichtert. Einer von den Federales, also ein Bundespolizist, oder gar ein Angehöriger der Eliteeinheiten der Marine würde sicher nicht zu einem Ausländer ins Auto steigen und einigermaßen ungezwungen über die komplizierte Lage in Mexiko plaudern. Der Stadtpolizist musste in Ciudad Constitución einen 40-stündigen Fortbildungskurs besuchen. „Angeordnet vom Ministerium,“ sagt er und es wird nicht ganz klar dabei, ob er die Fortbildung eher als Bereicherung seines Berufslebens einschätzt oder doch nur als lästige Pflichtveranstaltung. Jedenfalls hakt er das Thema schnell ab und kommt dann auf den Kampf gegen die Drogengangs zu sprechen, der in Mexiko seit Jahren zu einem unerklärten Bürgerkrieg geführt hat. In La Paz, gut zwei Autostunden weiter südlich, wo José Moran Gonzalez herkommt und zwischen seinen Schichten bei seiner Familie wohnt, sei es in letzter Zeit ziemlich unruhig geworden, berichtet der Uniformierte. Zwei bis drei Tote gebe es im Durchschnitt jeden Tag. Wobei es, wie ein Europäer, der seit 25 Jahren in der Stadt lebt, später ergänzen wird, bisher nur Gangmitglieder seien, die bei den Revierkämpfen umkommen. „Noch schlimmer geht es ganz unten im Süden zu, in der Region um Cabo San Lucas,“ seufzt Polizist Gonzalez. Über die Toten werde jedoch kaum mehr berichtet, die Regierung habe Angst vor den Auswirkungen auf die Tourismusindustrie, die auf der Baja California immer noch ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor ist. „Aber wir bekommen das im Dienst natürlich mit.“ Der Polizist, der seinen Job seit über 30 Jahren macht, sagt es resignierend, fast traurig. Kein Wunder, denn der Konflikt, in dem schon viele seiner Kollegen umkamen, scheint unlösbar zu sein.
Fehlt noch die Frage an José, ob denn die Trucker, die auf der Bundesstraße 1 zwischen der Südspitze der Halbinsel Baja California und Tijuana oder Mexicali im Norden unterwegs sind, von den Drogenkartellen für ihre Geschäfte genutzt werden? „Ja, natürlich werden in den Lastwagen immer wieder Drogen geschmuggelt. Aber inzwischen sind die narcotraficantes sehr häufig auf Motorrädern unterwegs.“ Einleuchtend, denn auf einer aufgemotzten Maschine oder einem Enduro-Motorrad hat man deutlich mehr Chancen, den Polizisten oder Militärs zu entwischen als mit einem schwerfälligen Truck.
Der Kampf des Staates gegen die Drogenkartelle ist für Fremde fast so etwas wie das Kastensystem in Indien: Man weiß, dass es das gibt, aber im Alltag sind die Verwerfungslinien schwer zu erkennen, wenn man einmal von den im Land verstreuten Kontrollpunkten von Militär oder Polizei und den schwer bewaffneten Patrouillen absieht, die in den Städten und auf den wichtigsten Verkehrsadern unterwegs sind. Fährt man die MEX 1 von La Paz, der Hauptstadt des Bundesstaats Baja California Sur, in Richtung Norden, sieht man genau die Bilder, die der Vorstellung, die man sich von einer mexikanischen Landschaft macht, entsprechen. Die Straße windet und schneidet sich durch eine ungezähmte Halbwüste, in der die Kakteen ihre stacheligen Arme in den heißen Himmel strecken. Visionen von Klapperschlangen und Skorpionen stellen sich ein, dazu lassen sich Geier und Krähenvögel von den Aufwinden hoch über der Straße tragen und halten Ausschau nach Beute, die von Autofahrern und Truckern auf dem Asphalt erlegt wird. Die blechernen Windräder und auf hohen Stelzen thronende Wassertanks kennt man aus den einschlägigen Western. Nur Cowboys (die hier vaqueros heißen) oder Bauern mit Eselskarren fehlen, um das Klischee rundum perfekt zu machen.
Die Bevölkerungsdichte liegt auf der lang gestreckten Halbinsel bei etwa 9 Einwohnern/km2. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt der Wert 230 Einwohner/km2. Zwischen den Städten gibt es kaum Tankstellen. Auf den einsamen Etappen sieht man gelegentlich die zusammengezimmerte Hütte von Campesinos, das traurige Gesicht einer ewigen Chancenlosigkeit. Von den wenigen Restaurants beiderseits der Fahrbahn sind viele verlassen und erzählen auf diese Weise ebenfalls vom kargen Leben in der Einöde. Viele Anrainer der MEX 1 versuchen sich als Llantero: Die Reifenflicker haben angesichts der Hitze in den Sommermonaten zwar regelmäßig Arbeit, aber reich wird man in diesem Geschäft höchstens in einer der Städte. Für einen Happen aire nachfüllen oder Hilfe beim Aufziehen des Reserverads gibt es nur ein paar Pesos. Was andererseits auch erklärt, warum sich so viele junge Mexikaner von den Narcos einspannen lassen: Schneller verdient man sein Geld nirgendwo, selbst wenn man nur als „Gehilfe“ auf der untersten Stufe der Hierarchie arbeitet. Die Kartelle sind ein bedeutender ökonomischer Faktor in dem lateinamerikanischen Land.
Carlos, der Fahrer, und Esteban, sein Mechaniker, stehen auf einem steinigen Fleck neben der Straße. Ihr Freightliner mag nicht mehr weiter, da helfen vermutlich auch keine Gebete in der Kapelle gegenüber. Sie interessieren sich für die Kamera des Fremden und wollen wissen, wie viele Bilder die speichern kann. Die Zeit dehnt sich, wenn der Truck defekt ist, da bleibt viel Zeit für einen Plausch. Dabei hat das Duo erst den geringsten Teil des Weges heim nach Tijuana geschafft. Bis zu der Grenzstadt – Zwilling des amerikanischen San Diego – sind es von La Paz aus 1800 Kilometer. 24 Stunden Fahrzeit kalkulieren die Trucker für die Strecke, Pausen nicht eingerechnet. Die werden bei Bedarf gemacht, manchmal auch gar nicht. Schließlich werden die meisten nach Leistung bezahlt, müssen also Kilometer „fressen“, um gut zu verdienen. Wobei man die Zeit nur schafft, wenn man souverän alle Verkehrsregeln und vor allem die Temposchilder ignoriert. 80 auf den kilometerlangen Geraden in den ebenen Abschnitten der MEX 1? So langsam sind nur Fahrer unterwegs, deren Vehikel vielleicht schon 50 Jahre oder noch älter sind. So wie der DINA Load Star von Jorge, der mit dem Hauber, nach seinen Worten Baujahr 1965, regelmäßig Fisch in ein Kühlhaus nach Ciudad Insurgentes fährt. Wenn es Topographie und das Verhältnis von Ladungsgewicht zu Pferdestärken hergeben, liegt das Marschtempo gerne über der 100 km/h-Marke.
Schließlich müssen die Fahrer dort, wo es geht, die Zeit einholen, die sie in den zahlreichen Baustellen verlieren. Vor ungefähr 40 Jahren war die MEX 1 noch eine Schotterpiste, längst ist sie durchgehend asphaltiert. Aber größtenteils so schmal, dass zwei Lastwagen nur nebeneinander Platz haben, wenn die Trucker mit den rechten Reifen auf der seitlichen Begrenzungslinie fahren. An einigen Stellen baut die Regierung die einzige Nord-Süd-Verbindung auf der Baja gerade aus. Dann müssen die Lastwagen oft kilometerlang im Staub der behelfsmäßigen Umleitungen fahren, und das im Schritttempo. Mit einem Pkw kann man einige der Waschbrettpisten „fliegen“, für die Trucks ist das unmöglich.
Wenn die Arbeit zuviel wird oder ein Schlagloch zu groß war für einen der Ami-Hauber – das verbreitetste Baumuster in Mexiko, zum Teil werden die Fahrzeuge ja auch im Land gebaut – ist das gut für das Geschäft von Ramon Alcalez, den Patron des Abschleppunternehmens Gruas del Valle in Ciudad Constitución. Es ist Abend, Ramon sitzt vor seinem Grundstück und wartet auf seine Frau, die ihn abholen soll. Unfälle, nach denen er einen Truck bergen muss, seien selten, erzählt er. Das wichtigste Geschäft ist das Abschleppen von liegen gebliebenen Lastern. Das Foto, auf dem Ramon müde auf einem Absatz vor seinem Bürogebäude sitzt, findet der Fotograf lässig. Aber der Mexikaner besteht darauf, noch ein zweites Portrait zu machen, mit dem schmucken Abschlepptruck als Kulisse. Der dreiachsige Kenworth ist ein Prachtstück, verglichen mit dem Ford, mit dem ein Kollege rund um den Kilometermarker 110 (wobei nach jeder größeren Stadt die Zählung neu beginnt) noch zu Einsätzen auf der MEX 1 ausrückt. 1965 wurde das Vehikel gebaut, das „im Nebenberuf“ für verschiedene Jobs auf den Farmen eingesetzt wird. Wenig später, vor knapp 50 Jahren, verband man in Mexiko die Austragung der Olympischen Spiele noch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Momentan sieht es für viele Mexikaner aber nicht so aus, als würde sich die bald einstellen.